Mondenkind 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

 
 
 
Zufrieden legte ich den breiten Pinsel beiseite, strich mir eine dünne Haarsträhne aus der Stirn und musterte die Leinwand. Als Grundierung hatte ich einen leichten Pastellton genommen, der dem unsicheren Lächeln meiner Nichte mehr Wärme verleihen würde. Dieses Mal hatte ich nur eine Fotographie als Vorlage, das Bild sollte eine Überraschung für den Großvater der Kleinen werden. Mit langen Schritten trat ich an den überladenen Sekretär in der Zimmerecke, der sich unter der Last von Grünpflanzen und Schriftstücken zu biegen schien, zog mehrere Fotos aus einem Briefumschlag und musterte sie eingehend. Lisa war mit ihren zehn Jahren schon eine kleine Schönheit. Die dunkelblonden Haare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schultern, ihre Augen blitzten lausbubenhaft. Nur die Stupsnase und die Zahnlücken, die das vorsichtige Lächeln nicht verbergen konnte, offenbarten ihr wahres Alter. Eigentlich lag mein Schwerpunkt im Malen von Miniaturen, gelegentlich verkaufte ich mit Ornamenten versehene Tassen, Teller und Krüge an Touristen, was ein nettes Zubrot lieferte, große Portraits wurden nur selten in Auftrag gegeben, was gewiß an den hohen Gesamtkosten lag. Gelegentlich warf ich stimmungsvolle Landschaften auf die Leinwand, Sonnenuntergänge, Palmen und das Meer waren sehr begehrt als Andenken an die schönste Zeit des Jahres. Gedankenverloren trat ich ans Fenster. Unter dem Haus fielen versetzt die Klippen ab, der Ausblick auf Meer und Sandstrand war immer wieder atemberaubend. Ich konnte mich nie daran satt sehen, selbst acht Jahre auf der Insel hatten mich nicht daran gewöhnen können. Hinter den Dünen wurde die Wildnis gezähmter, die groben Steine waren zu ordentlichen Mauern geschichtet, der Sand geharkt. Aus Palmblättern gefertigte Sonnenschirme wiesen schon von weitem auf Privatstrände der Hotelanlagen hin, zum Glück nicht in unmittelbarer Nähe. Die Touristen waren unersättlich, alles wollten sie ansehen, vieles kaufen, das einzige, was sie in Zaum hielt, waren Anstrengungen. Und mich in meinem Haus auf den Klippen aufzuspüren, war reichlich anstrengend. Einzig die Kinder schafften es immer wieder, den schmalen Zugang zu erobern, angezogen durch die Geheimnisse des Verborgenen und getrieben von Langeweile, die die von morgens bis abends auf Liegestühlen röstenden Erwachsenen in ihrer Lethargie ausdünsteten. Bald würden sie wieder auf der Insel einfallen wie die Heuschrecken, sonnenhungrig und unvernünftig, sich am Strand mit Hamburgern vollstopfen und schon am Vormittag die ersten Bierflaschen öffnen. Seufzend wandte ich mich ab und begann die Farben zusammenzustellen, die ich für das Porträt benötigen würde.


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Zwei Tage später weckten mich helle Kinderstimmen, die mit dem Rauschen des Meeres vermischt zu mir drangen. „Schau mal, hier liegt eine größere Muschel als die, die du gefunden hast.“ – „Iih, spritz nicht so, das Wasser ist so kalt.“ – „Heulsuse, stell dich nicht so an. Du wolltest doch schwimmen lernen.“ – „Schau, Vati hat die große Tasche mitgenommen, er winkt uns.“ – „Wer zuerst da ist, los geht’s.“ Ich öffnete den Fensterflügel und lehnte mich hinaus. Vier Kinder stoben in wilder Jagd den Strand hinunter zu den Liegestühlen. Sie waren mir nicht so nahe gekommen, wie ich geglaubt hatte, der Wind hatte ihre Stimmen nach oben getragen und mir größere Nähe vorgegaukelt, als tatsächlich vorhanden war. Tief atmete ich die salzige Meeresluft ein und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Die ersten Urlauber waren eingetroffen, sehr bald würden meine Sommerkinder vor der Tür stehen. Ich nannte sie in Gedanken stets „meine Sommerkinder“, weil sie jedes Jahr in den Sommerferien wieder zu mir kamen, meist brachten sie neue Gesichter mit, die ihre Neugierde nicht bezähmen konnten. Von den Erwachsenen sich selbst überlassen, waren sie dankbar für jede Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkte, was sich in tadellosem Benehmen und einer innigen Verbundenheit äußerte. Ich gab ihnen alte Pinsel, Wasserfarben und Schmierpapier, auf dem sie ihre Kunstfertigkeit üben konnten, zeigte ihnen meine Miniaturen und ließ sie bei der Arbeit zusehen, die ihnen oft wie Zauberei vorkam. Die begabteren Kinder durften sogar gelegentlich mit Resten von Ölfarben experimentieren oder andere handwerkliche Tätigkeiten versuchen, die mir einfielen. So setzte der Zustrom der kleinen Gäste jeden Sommer von neuem ein, anfangs ein stetes Ärgernis für meine strapazierten Nerven, zunehmend jedoch eine ungeahnte Bereicherung meines Einsiedlerlebens, die ich nicht mehr missen wollte.


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Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon bald nach dem Frühstück hörte ich kleine Füße über die Terrasse huschen, ungeduldige Kinderhände hämmerten an die Tür.
„Anna, wir sind wieder da!“ Schwungvoll öffnete ich die knarrende Holztür, Susanne trat als erste ein und streckte mir ein Bündel Feldblumen entgegen. „Für dich – ich bin so froh, daß wir wieder hier sind!“ Gerührt strich ich ihr über das strohblonde Haar. „Vielen Dank, ich stelle sie gleich ins Wasser.“ Hinter ihr drängelten sich fünf kleinere Kinder, die ich aus den Vorjahren kannte, reichten mir die feuchten Hände und ließen dabei ihre Blicke durch die Stube wandern, um nach Veränderungen Ausschau zu halten. „Ah, meine Sommerkinder! Wen haben wir denn da – Timmy, Sarah, Hilde, Daniel und Maike, schön, euch wiederzusehen. Ich hole rasch etwas Limonade, dann könnt ihr erzählen.“ Wir ließen uns im Schatten der alten Palme auf der Terrasse nieder, einen Teller mit Keksen und frische Zitronenlimonade in der Mitte. „Jonas macht heute eine Inselrundfahrt, er war ganz enttäuscht, wird aber morgen mitkommen.“ – „Und Marie kommt erst nächste Woche, sie hat mir geschrieben.“ – „Ich war schon früh im Meer baden, es war noch ganz kalt, und Mama hat mit mir geschimpft.“ Ununterbrochen plapperten die kleinen Mäuler, sie fühlten sich sichtlich wohl bei mir. Ich genoß es, meine Sommerfamilie zu Besuch zu haben, die meisten würden zur Mittagszeit wieder verschwinden, um am Nachmittag mit neuem Tatendrang zurückzukehren. Nur wenige blieben den ganzen Tag bei mir wie Susanne, die schon zwölf Jahre alt war und mir bei jedem Handgriff zuschaute, um möglichst viel zu lernen. Sie träumte davon, einmal selbst Bilder zu malen und stellte sich bei ihren Versuchen sehr geschickt an. Wenn ich Zeit hatte, zeigte ich ihr auch die eine oder andere Technik, hatte ihr letztes Jahr sogar versprochen, sie in die Geheimnisse der Miniaturenmalerei einzuführen, und wußte, daß sie das nicht vergessen hatte. Fürs erste nutzte sie die stillen Mittagsstunden, um mir beim Bearbeiten des fortgeschrittenen Portraits zuzusehen. Das war mir sehr recht, der Geburtstag des Großvaters näherte sich und ich hatte noch vieles zu erledigen.


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Der Juli neigte sich seinem Ende entgegen. Die Tage begannen unmerklich kürzer zu werden, was die Aktivität meiner kleinen Gäste nicht minderte. Die meiste Zeit saßen sie eifrig pinselnd auf der Terrasse und unterbrachen ihre Tätigkeit nur, um mehr Limonade zu erbitten oder ein kurzes Bad im Meer zu nehmen. Die Sonne strahlte unerbittlich vom Himmel herunter und ließ sogar mir in meinem luftigen Baumwollkleid den Schweiß über den Rücken laufen. Selbst der tiefe Schatten des Hauses versprach kaum noch Abkühlung, erst nach Sonnenuntergang wurden die Temperaturen angenehm, sanken nachts sogar überraschend weit ab. Ich ließ vor dem Schlafengehen alle Fenster offen stehen, hüllte mich in eine kuschelige Decke und genoß das leise Plätschern der Wellen, das mich in den Schlaf begleitete.
Eines Abends, es mußte bereits weit nach Mitternacht sein, klopfte es wild an meiner Tür. Ich rappelte mich auf, überrascht, wer um diese Zeit Einlaß begehrte, und tappte im Licht des Mondes zur Tür, nur eine Stola über dem Nachtshirt. Vorsichtig öffnete ich, Susanne fiel mir regelrecht in die Arme, die Haare in feuchten Strähnen ins Gesicht hängend. „Anna, schnell, du mußt mit mir kommen, sie will nicht aufstehen und ist schon ganz kühl!“ Ihre Augen waren angstvoll geweitet, ungeduldig zog sie an meinem Arm. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach, aber es war jetzt nicht die Zeit, um Fragen zu stellen. Susanne ließ keinen Zweifel am Ernst der Situation. Rasch schlüpfte ich in eine Hose, zog die Wolljacke über und hing nach kurzem Zögern ein dickes Badelaken über meine Schultern. Das Mädchen war schon aus der Tür und eilte mit sicheren Schritten den gewundenen Pfad über die Klippen hinunter, ich folgte, so rasch ich konnte. Der kühle Sand klebte an meinen Fußsohlen, als ich hinter ihr den Strand entlang lief, Gischt spritzte mir entgegen, vom Nachtwind aufgewirbelt. Vollmond tauchte die Dünen in fahles Licht, so daß ich jede Einzelheit erkennen konnte. Etwa in der Mitte zwischen meinem Haus und den Hotelanlagen war ein Zelt aufgebaut, in sicherer Entfernung davor ein kleines Lagerfeuer, sorgsam in einem Ring aus Steinen angelegt. Zwei Jungen saßen im Schneidersitz davor und unterhielten sich leise. Sie gaben Susanne ein Zeichen, diese nickte und verlangsamte ihren Schritt. Vor den großen Felsen, am Rande der beginnenden Wildnis, saß ein Mädchen im Sand, ich kannte sie flüchtig. Im Schatten der Felsen aber kauerte eine kleine Gestalt, die Knie eng an den Körper gezogen und mit den Armen umschlungen, den Blick aus großen dunklen Augen starr auf das Meer gerichtet. Sie saß ganz still und aufrecht und schien keine Notiz von unserer Ankunft zu nehmen. Fragend schaute ich Susanne an. Diese schüttelte ratlos den Kopf. „Wir wollten heimlich zelten, so eine Art Mitternachtsparty, weißt du, da haben wir sie hier gefunden. Ich habe sie am Nachmittag schon einmal gesehen, aber da war eine Frau bei ihr. Keine Ahnung, wie lange sie schon hier sitzt, sie ist ganz kühl und schreit, wenn ich sie anfasse.“ Nachdenklich betrachtete ich das Kind. Irgend etwas Furchtbares mußte geschehen sein, sie schien unter Schock zu stehen, anders konnte ich mir die Situation nicht erklären. Ich mußte einen Weg finden, ihre Aufmerksamkeit zu wecken und sie aus diesem Zustand zu lösen. „Danke, Susanne, am besten, ihr geht zum Zelt und laßt mich alleine. Wenn du willst, komm morgen vormittag vorbei, dann sehen wir, wie es weitergeht.“ Die beiden großen Mädchen entfernten sich so vorsichtig, als wäre eine Bombe kurz vor der Explosion, was mich unter anderen Umständen zum Lachen gebracht hätte. So unbeteiligt wie möglich setzte ich mich in geringer Entfernung zu der Kleinen in den Sand und versuchte, sie nicht anzusehen. Ihr starrer leerer Blick hatte etwas zutiefst beängstigendes, mein Herz krampfte sich mitleidend zusammen. Ich breitete das dicke Handtuch aus und begann, den weichen Stoff zu streicheln. Mit leiser Stimme murmelte ich abwechselnd spanische und deutsche Kinderreime, in der Hoffnung, sie würde einen wiedererkennen und darauf ansprechen, begann schließlich, Schlaflieder zu singen. Das Mädchen rührte sich nicht, schien sich jedoch den Melodien nicht entziehen zu können. Vorsichtig schob ich das Handtuch näher heran, formte einen Knubbel und strich ihn wieder glatt, verkürzte langsam die Distanz zwischen uns. Es tat sich nichts, sie schien ganz weit weg zu sein. Entschlossen legte ich meine warme Hand auf ihre Knie, sie fühlten sich kühl und feucht an, waren zum Teil mit einer dünnen Sandschicht überzogen. Mit rauher Stimme fing ich das Lieblingslied meiner Nichte an, „La, le, lu, nur der Mann im Mond schaut zu,....“, da legte das Kind seinen Kopf auf meine Hand und begann zu weinen. Erleichtert atmete ich auf. Jede Reaktion war besser als keine. Ich sang ununterbrochen weiter, legte das Handtuch behutsam um den kleinen Körper und hob ihn auf meinen Arm, von leisem Singsang begleitet. Sie wehrte sich nicht, ließ sich von mir forttragen und weinte leise vor sich hin. Ich war überrascht, wie leicht sie war, spürte ihr Gewicht an meiner Schulter kaum. Im Vorbeigehen winkte ich den Zeltenden zu, immer darauf bedacht, den Gesang nicht zu unterbrechen, und lief so vorsichtig es ging nach Hause.

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Das Zimmer war angenehm warm gegen die kühle Nachtluft. Ich setzte das Kind mitten auf meinem Bett ab und hüllte es in die weiche Decke ein. Es weinte nicht mehr, die großen Augen verfolgten jede meiner Bewegungen voller Aufmerksamkeit. Rasch schloß ich die Fensterflügel, summte weiter vor mich hin und brühte eine frische Zitrone auf. Die Kleine machte einen durchgefrorenen Eindruck. Die Feuchtigkeit der Meeresluft und der beständige Windhauch brachten stärkere Abkühlung als bei den eher lauen Nachttemperaturen angenommen wurde. Ich gab einen Löffel Honig dazu und kostete das Gebräu, heiß, süß-sauer und meistens sehr wirksam. Sie rührte sich nicht, als ich auf der Bettkante Platz nahm und ihr den Becher anbot. So flößte ich ihr einen Teelöffel des Getränkes durch die Mundwinkel ein, dann einen zweiten. Sie verzog das Gesicht, öffnete dann aber brav den Mund und ließ es zu, daß ich ihr die warme Flüssigkeit hinein löffelte. Erleichtert lächelte ich sie an, die Augen fielen ihr vor Müdigkeit schon zu. „Ich bin Anna. An-na. Jetzt schlaf erst einmal, ich passe auf dich auf. Morgen sehen wir weiter.“ Ich strich ihr die wirren Haare aus der Stirn, die sich erfreulich warm anfühlte. Sie drehte den Kopf zur Seite und fiel umgehend in tiefen Schlaf. Lange saß ich so auf der Bettkante, schaute das schlafende Kind an und dachte nach. Was für ein Unglück mochte passiert sein? Ich schätzte die Kleine auf fünf Jahre, höchstens sechs, also ein Alter, in dem einerseits Ausdrucksfähigkeit und Wortschatz schon gut entwickelt sind, andererseits die Phantasiewelt große Ausmaße annehmen kann. Würde sie am Morgen erzählen können? Was sollte ich mit ihr anfangen? Abrupt stand ich auf, mir war nicht aufgefallen, wie unbequem ich die ganze Zeit gesessen hatte, dehnte meine müden Glieder und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Spontan griff ich nach dem Skizzenblock. Das erste Bild, das ich von ihr hatte, allein am Strand mit diesen riesigen dunklen Augen und der beängstigenden Starre, ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich wollte es auf dem Papier festhalten und damit gleichwohl aus meinen Gedanken verbannen. Strich um Strich füllte den leeren Bogen, bald nahm das schon vertraute Gesicht Form an.


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Ein Sonnenstrahl schien mir ins Gesicht, ich blinzelte unwillig und hob den Kopf vom Tisch. Irgendwann in den Morgenstunden mußte ich beim Zeichnen eingeschlafen sein, ich begann mich der Ereignisse der Nacht zu erinnern. Mein Blick fiel auf das leere Bett. Wo war das Mädchen? Mit einem Satz war ich auf den Beinen und suchte das Zimmer ab. Sie stand in der Ecke am Fenster und betrachtete das Porträt meiner Nichte. Erleichtert atmete ich auf. „Guten Morgen, wie geht es dir? Sicher hast du Hunger, wir machen uns gleich ein Frühstück, ja?“ Sie schaute mich an, nicht mehr so starr und angstvoll wie in der Nacht, brachte aber kein Wort heraus. „Ich bin Anna“, wiederholte ich. „Und wie heißt du?“ Keine Antwort. „Du wirst doch einen Namen haben? Vielleicht Maria? Estella? Juanita? Mariella?...“ Ich zählte auf, was mir an Namen einfiel, aber sie schaute mich nur an mit diesem ruhigen, tiefgründigen Blick. Als mir kein Name mehr einfiel, lächelte sie kurz, blickte dann zu Boden. „Gut, du hast also keinen Namen oder willst ihn nicht verraten. Ich werde dir einen schenken, vorübergehend. Laß mal sehen – Luna. Ich werde dich Luna nennen, weil ich dich im Licht des Mondes gefunden habe. Du bist ein Mondkind.“ Luna schaute mich unverwandt an, ließ aber mit keiner Regung erkennen, ob ihr der Name gefiel oder ob sie mich überhaupt verstanden hatte. Meine Versuche, auf spanisch mit ihr zu sprechen, blieben gleichfalls ohne Wirkung. „Komm mit in die Küche, Luna, wir wollen frühstücken.“ Ich hielt ihr meine Hand entgegen, und zu meiner großen Überraschung ergriff sie diese. Es war die erste vertrauensvolle Geste, die sie mir gezeigt hatte, und erfüllte mich mit einem ungeahnten Glücksgefühl. Gemeinsam gingen wir in die Küche. Ich kochte Kakao und Grießbrei, den ich gelegentlich selbst gerne aß, dazu gab es Melone und Kekse. Stumm setzte sich Luna an den Tisch und aß mit großem Appetit. Da klopfte es an der Tür. Erschrocken blickte sie auf, bereit, sich beim kleinsten Anzeichen von Gefahr zu verstecken. „Bleib sitzen, es ist gewiß nur Susanne. Sie tut dir nichts.“ Ich öffnete, Susanne platzte schon vor Neugier. „Ich bin gleich nach dem Frühstück verschwunden“, erzählte sie. „Ist sie hier?“ – „Ja, aber sie spricht nicht und ist sehr ängstlich. Bitte sei leise.“ Susanne folgte mir in die Küche. Luna saß steif auf dem Stuhl, witterte wie ein kleines Tier und sog tief die Luft ein. „Setz dich, Susanne, möchtest du auch einen Kakao?“ – „Ja, gerne.“ Ich füllte alle drei Tassen mit dem warmen Getränk und begann mit Susanne über alltägliche Dinge zu plaudern. Mit einem Seitenblick auf Luna konnte ich feststellen, daß sie sich wieder entspannte und dem Gespräch interessiert lauschte. „Ich denke, wir müssen der Policia den Vorfall melden, irgend jemand muß Luna doch vermissen. Am besten gehen wir gleich nach dem Frühstück zum Büro, vielleicht kannst du ja mitkommen, Susanne? Du hast sie schließlich zuerst gesehen.“ Susanne nickte sofort. „Natürlich, aber viel kann ich auch nicht berichten.“ - „Das macht nichts, aber irgend etwas muß ja geschehen. Ich will gleich mal nachsehen, ob ich noch ein anderes Kleid für Luna finde, das hier sieht schon sehr gerupft aus. Es sind sicher noch ein paar Sachen von Lisa im Schrank, sie vergißt bei fast jedem Besuch etwas.“
Der große Kleiderschrank im Schlafzimmer gab tatsächlich ein paar brauchbare Kleidungsstücke her: eine knielange Jeans, die gewiß schon bessere Tage gesehen hatte, ein knallrotes Shirt mit einem kleinen aufgestickten Ballon, das eindeutig zu groß ausfiel, und ein mit bunten Blumen bedrucktes Sommerkleid. Luna war mir unbemerkt gefolgt und zog sogleich die Jeans an. Sie paßte tatsächlich, war sogar ein wenig zu weit für den schmalen Körper, was sich mit dem weiten Shirt gut überdecken ließ. Luna strahlte und musterte sich im Spiegel. Es schien, daß sie noch niemals Jeans getragen hatte, ihr Entzücken war nicht zu übersehen. Doch noch immer sprach sie kein einziges Wort. Susanne hatte inzwischen die Skizze entdeckt, die ich in der Nacht gezeichnet hatte. „Ist das schön!“ rief sie begeistert, „Genau so hat sie ausgesehen. Wie schaffst du es nur, das so hinzukriegen? Wenn mir das doch auch so leicht von der Hand ginge.“ – „Das wird schon noch, du hast bereits sehr gute Ansätze. Vor allem in den letzten zwei Jahren hast du große Fortschritte gemacht. Als ich in deinem Alter war, habe ich noch kaum ans Malen gedacht. So, nun laßt uns losgehen, bevor es noch heißer wird. Ich werde die Skizze mitnehmen, vielleicht hilft sie der Policia bei den Ermittlungen.“

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Der diensthabende Beamte war nicht begeistert von einem neuen Fall, der seine Aufmerksamkeit erforderte. Eine Frau mit zwei Kindern an der Seite stahl seine Zeit, niemand schien zu Schaden gekommen zu sein; ausgesetzte Kinder seien nicht so selten wie gemeinhin angenommen wird. Nachlässig notierte er die Einzelheiten auf dem entsprechenden Formular und kaute zwischendurch am Ende seines Kugelschreibers, um ein gewisses Nachdenken zu demonstrieren. „Die Skizze ist sehr hilfreich, Senora, wir werden sie vervielfältigen lassen und überall aushängen. Das Mädchen lassen sie am besten bei mir, ich werde sie an das zuständige Haus weiterweisen, bis der Fall geklärt ist.“ Er trat einen Schritt auf mich zu und ging in die Hocke, um Luna, die er bisher kaum angesehen hatte, zu sich zu locken. Mit einem Aufschrei versteckte sie sich hinter mir, umklammerte meinen Oberschenkel und rief mit lautem Protest „nein, ich bleibe nicht hier, ich gehe mit Anna!“ Ich war starr vor Staunen, der Beamte, in seiner Ruhe gestört, blickte irritiert hinter sich, als suche er Beistand bei einem Kollegen, doch es ließ sich niemand blicken. Er war der Situation sichtbar nicht gewachsen, als Befehlsempfänger überstieg es seinen Horizont, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. Da ergriff ich die Initiative. „Ich denke, es wird das beste sein, wenn Luna bei mir bleibt. Ich wohne seit acht Jahren auf der Insel und habe nicht vor, das zu ändern, Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Sie können mich jederzeit in meinem Haus auf den Klippen erreichen, die Anschrift habe Sie ja in den Akten vermerkt. Bitte benachrichtigen Sie mich, sobald es Neuigkeiten gibt.“ Ich reichte dem verdutzten Beamten die Hand zum Abschied, er nahm sie wie einen toten Fisch, schüttelte sie mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit und notierte dann zwei Sätze auf dem Formular. Ein Nicken deutete an, daß wir entlassen waren.

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Susanne seufzte erleichtert, als wir das Büro verlassen hatten. „Ein Glück, daß du ihn überzeugen konntest. Das wäre beinah schief gegangen.“ – „Die Beamten richten sich stets nach den Vorschriften, ihnen fehlt die Phantasie, die eine neue Situation erfordert, vor allem, wenn Menschen betroffen sind. Wenn man ihnen eine Alternative zeigt, sind sie selten abgeneigt, diese anzuerkennen. Wollt ihr ein Eis essen? Ich spendiere eins zur Feier des Tages. Luna, du kannst ja reden! Möchtest du Erdbeer oder Vanille?“ Gespannt wartete ich auf ihre Antwort, und sie enttäuschte mich nicht. „Vanille“, flüsterte sie und lächelte mich an. Ich kaufte für jeden eine Kugel, die wir auf dem Heimweg aufleckten. Susanne war aufgekratzter, als ich sie bisher kennengelernt hatte, und redete ununterbrochen. Luna ging still neben mir her, ich war froh, daß sie so rasch Vertrauen gefaßt hatte und bleiben wollte. Doch wie sollte es weitergehen? Als Mutter hatte ich so gar keine Erfahrung, es hatte mich nie gereizt, eigene Kinder zu haben. Aber Lunas Charme konnte ich mich nicht entziehen, es schien ganz selbstverständlich, daß sie bei mir bleiben würde, und ich begann, fast von mir selbst unbemerkt, Pläne zu schmieden.

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Die Tage vergingen viel zu schnell, Luna hatte meine Sommerkinder ohne Probleme akzeptiert, wohl wissend, daß alle spätestens am Abend wieder nach Hause gingen, sie selbst aber bleiben durfte. Sie genoß es, mir bei allen Tätigkeiten zuzusehen, beim Malen ebenso wie beim Kochen. Gelegentlich reichte sie mir Utensilien, die ich benötigte, ohne daß ich sie darum gebeten hätte, sie wußte einfach, was ich brauchte. Sie spielte mit den anderen Kindern, begann auch bald zu malen, nicht mit Wasserfarben, sondern mit Wachskreiden, was ich mit großer Freude unterstützte. Noch immer sprach sie wenig, das schien ihre Art zu sein, immerhin gab sie Antwort auf Fragen oder stellte gelegentlich selbst welche, jedoch ohne die Hartnäckigkeit, die ich bei anderen Kindern ihres Alters beobachtet hatte. Ihre Zeichnungen waren auffällig düster, ich hob sie in einer Mappe auf und schaute sie nach ein paar Wochen noch einmal an. Dabei fiel mir auf, daß sie immer wieder Felsen und das Meer zeichnete, und einzelne Menschen, die ins Wasser gingen, einmal auch eine aus dem Wasser gestreckte Hand ohne Körper und einsame Kleidungsstücke am Ufer. Wo hatte sie das gesehen? In meinem Kopf setzten sich die Puzzleteile nach und nach zusammen. Ihre Mutter war ins Wasser gegangen, entweder zum Schwimmen und war nicht wiedergekehrt, oder als Abschied, und hatte dem Kind aufgetragen, dort zu warten. Das Verlassenwerden hatte ein Trauma ausgelöst, vielleicht sogar eine Gedächtnislücke hinterlassen, um nicht mehr daran denken zu müssen. Das würde einiges erklären. Luna sprach nach wie vor nicht über jene Nacht, ich drängte sie nicht, doch als eines Tages ein Beamter der Policia an der Tür klopfte, hatte sie sich sogleich ängstlich versteckt. Bei den Ermittlungen waren an den Felsen alte Kleidungsstücke gefunden worden, was meine Theorie erhärtete, jedoch auch ein Zufallsfund von einer anderen Person gewesen sein konnte. Angehörige der Kleinen hatten sich bisher nicht gemeldet, die Frist lief noch. Ich war bereits jetzt ganz sicher, daß niemand Anspruch auf sie erheben würde, sonst wäre es längst geschehen.

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Der Sommer neigte sich dem Ende entgegen, täglich kamen weniger kleine Gäste zu Besuch. Sie verabschiedeten sich überschwenglich, schenkten mir die gelungensten ihrer Bilder und beteuerten, im nächsten Jahr wiederzukommen. Ich schenkte jedem eine Bleistiftskizze mit dem eigenen Gesicht, die ich in unbeobachteten Augenblicken angefertigt hatte, als Erinnerung an die schöne Zeit. Die Freude war allerseits groß. Nur Susanne fiel es deutlich schwerer, den Heimflug antreten zu müssen, weinend fiel sie mir um den Hals, von Luna skeptisch beäugt. Erst mein Angebot, einander Briefe zu schreiben, konnte sie trösten. Sie versprach, kleine Zeichnungen zu schicken, damit ich ihre Fortschritte beurteilen konnte, was ich gerne versprach.
Luna wurde in diesen Tagen noch stiller, falls das überhaupt möglich war. Einmal machte ich den Versuch, sie auf ihre Zeichnungen anzusprechen. “Sie sind sehr hübsch, aber alle seltsam düster. Und diese Hand, die aus den Wellen ragt - wo hast du das gesehen?” Sie senkte den Blick zu Boden und schwieg. Ich nahm ihre Hand und drückte sie liebevoll. “Du mußt es mir nicht erzählen, ich werde dich nicht wieder danach fragen. Aber wenn du einmal das Gefühl hast, über das reden zu wollen, was vor jener Nacht geschah, kannst du immer zu mir kommen, ok?” Sie nickte, ich konnte die Erleichterung auf ihrem Gesicht ablesen und ließ es dabei bewenden.
Eines Morgens, nachdem alle Sommerkinder abgereist waren, kam Luna zu mir ins Bett gekrabbelt, wie sie es gerne tat, und schaute mich forschend an. “Jetzt sind alle fort. Muß ich auch bald gehen?” Der tiefe Ernst in ihrer Stimme rührte mich. “Wohin möchtest du denn gehen? Ich dachte, du fühlst dich wohl bei mir. Aber ich würde dich nicht aufhalten, wenn es dein Wunsch ist, fortzugehen.” Sie dachte einen Moment nach. “Nein, ich möchte hier blieben, unbedingt. Aber wenn die Policia wiederkommt? Wird mich der Mann nicht mitnehmen wollen?” - “Nein, gewiß nicht, er ist froh, daß es dir gut geht. Und bisher hat sich niemand gemeldet, der dich vermißt, ich rechne nicht mehr damit.” - “Und wenn doch?” bohrte sie weiter, ganz gegen ihre Gewohnheit. Ich nahm sie in den Arm und strich ihr sanft über das schwarzglänzende Haar. “Dann werden wir eine Lösung finden, hab keine Angst. Wenn aber ein Jahr vergangen ist, ohne daß jemand dich holen will, werde ich dich adoptieren, dann bleibst du für immer bei mir.” - “Für immer?” - “Ja, solange du willst. Aber du mußt Geduld mit mir haben, ich hatte noch nie eine Tochter.” Ein Leuchten ging über ihr Gesicht, die dunklen Augen glänzten voller Glück. “Ja, das werde ich.”



02.07.2007



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